Die Nationenpolitik der Sowjetunion und Einschränkungen aufgrund der ethnischen Herkunft

Die Nationenpolitik der Sowjetunion und Einschränkungen aufgrund der ethnischen Herkunft

MIGRATION

Die Sowjetmacht befürwortete innerstaatliche Migration. 1974 rief der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Leonid Breschnew den Komsomol dazu auf, in 5 Jahren in Sibirien die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) zu bauen, eine 3500 km lange Eisenbahnverbindung mit 200 neuen Bahnhöfen und Städten, um die reichlich vorhandenen Bodenschätze dieses Gebietes nutzen zu können. Viele der damaligen jungen Leute, die im Bau beschäftigt waren, leben bis heute in diesem Gebiet.

BAU DER BAIKAL-AMUR-MAGISTRALE. 1976. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

AGITATIONSGRUPPE TRITT VOR DEN BAUARBEITERN DER BAIKAL-AMUR MAGISTRALE AUF. 1977. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

HALBOBLIGATORISCHE IMMIGRATION DER ARBEITSKRÄFTE

Zu Großbauten wie z. B. der Olympia-Komplex oder der Plattenbau-Stadtteil Lasnamäe in Tallinn wurden Bauarbeiter aus der ganzen Sowjetunion geschickt. Diesen wurden als Privileg Wohnungen in den neu gebauten Objekten zugeteilt, deshalb blieben sie oft dort. Das Baltikum war besonders beliebt, weil der Lebensstandard hier etwas höher und die Lebensweise westlicher waren. Dies zog demografische Änderungen nach sich. Der Anteil der indigenen Bevölkerung ging spürbar zurück. Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen waren die Folge.

BAUARBEITER DER GRÖßEREN OBJEKTE WAREN OFT EINWANDERER. BAUARBEITER DER SPANPLATTENFABRIK IN PÜSSI (VON LINKS) V. SMITRITSCHENKO, V. TSCHELMODEJEW, N. ANTSSEN, V. SAWJALOW UND M. SASS. OKTOBER 1981. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

DIE NEU GEBAUTEN WOHNUNGEN WURDEN VORZUGSWEISE EINWANDERERN ZUGETEILT. WOHNHAUS DER KRIEGS- UND ARBEITSVETERANEN IM STADTTEIL LASNAMÄE IN TALLINN. APRIL 1986. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

DIE NATIONENPOLITIK DER SOWJETUNION UND EINSCHRÄNKUNGEN AUFGRUND DER ETHNISCHEN HERKUNFT

Am 19. Dezember 1978 verabschiedete das Zentralkomitee der KPE einen geheimen Beschluss, in dem die Einschränkung der öffentlichen Verwendung der estnischen Sprache und die Zweisprachigkeit der estnischen Bevölkerung zum Hauptbestreben der Partei erklärt wurde. Damit wurde der Status der schon bisher bevorzugten Russen und der russischen Sprache noch weiter angehoben. Die Dokumentenformulare in der öffentlichen Sphäre waren nunmehr auf Russisch, im Dienstleistungsbereich wurden Personen mit russischer Muttersprache angestellt, die kein Estnisch konnten.

In Estland wurden große Industrieunternehmen errichtet, die als eine Migrationspumpe fungierten. Die Rohstoffe für diese Unternehmen wurden aus anderen Gebieten der Sowjetunion hergebracht und auch die Produktion wurde nicht in Estland benötigt, sondern wieder exportiert. Die sowjetischen Großunternehmen wurden von Moskau aus auf Russisch geleitet, ein Großteil der Funktionen mit Russen besetzt.

DIE STELLVERTRETERIN DES SEKRETÄRS DES PARTEIKOMITEES DER H. PÖÖGELMANN-ELEKTROTECHNIKFABRIK W. JUDINA SPRICHT MIT DEN PROPAGANDISTEN DES UNTERNEHMENS. 1981. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

FÜR DIE SOWJETPROPAGANDA WAREN OFT MUTTERSPRACHLICHE RUSSEN ZUSTÄNDIG. PROPAGANDISTEN DER H. PÖÖGELMANN-ELEKTROTECHNIKFABRIK (VON LINKS) T. AWRAMENKO, L. MURASCHOWA, V. MULIKOW UND W. LVOWA IN DER FABRIKSBIBLIOTHEK. 1981. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

Auch Judenfeindlichkeit kam in der Sowjetunion vor. Diese bekam z. B. der international bekannteste Semiotiker, Professor der Universität Tartu Juri Lotman zu spüren, der jüdischer Herkunft war. Bei der Veröffentlichung seiner Arbeiten wurden ihm wiederholt Hindernisse in den Weg gelegt. Noch 1987 wurde die Kandidatur von Juri Lotman zum Akademiemitglied schändlich abgelehnt.

In der neuen, 1977 verabschiedeten Verfassung der Sowjetunion war vorgesehen, einen neuen Menschentyp zu erziehen, den sowjetischen Menschen bzw. Homo Sovieticus, der ein überzeugter Kommunist sein, die marxistisch-leninistischen Überzeugungen über alles schätzen, der Partei treu sein sowie fleißig und uneigennützig arbeiten sollte.

DER PROFESSOR DES LEHRSTUHLS FÜR RUSSISCHE LITERATUR DER UNIVERSITÄT TARTU, DER INTERNATIONAL ANERKANNTE SEMIOTIKER J. LOTMAN, DER IN LENINGRAD SCHIKANIERT WURDE UND SEINE ARBEIT IN ESTLAND FORTSETZEN KONNTE, IM VORLESUNGSSAAL. 16. MAI 1979.
(ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

„DIE ERZIEHUNG DES NEUEN, SOWJETISCHEN MENSCHEN SCHREITET SCHWUNGVOLL FORT“. ARBEITS- UND PARTEIVETERAN DER M. KALININ-ELEKTROTECHNIKFABRIK IN TALLINN G. LARZEV ERZÄHLT DER KOMSOMOLJUGEND DER FABRIK VON SEINER BEGEGNUNG MIT M. KALININ. JUNI 1983. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

BRIEFMARKE DER ESTNISCHEN SOWJETREPUBLIK. 1967. (PRIVATSAMMLUNG)

VERBOT DER POLITISCHEN OPTIONEN

Neben der kommunistischen Partei konnten keine anderen Parteien existieren. Es herrschte ein Einparteiensystem. Oktoberkinder und Jungpioniere waren Mitglieder der Kinderorganisationen der kommunistischen Partei. Zu diesen Organisationen zu gehören war mehr oder weniger verpflichtend. Das Gleiche galt für den Komsomol, genauer den Gesamtsowjetischen Leninschen Kommunistischen Jugendverband. Alle diese Organisationen dienten einem Hauptzweck: zukünftige Kommunisten heranzuzüchten.

Auch alle sonstigen Massenorganisationen befanden sich unter der Kontrolle des Staates und machten das, was ihnen vom Staat vorgeschrieben wurde. Die Gewerkschaften z. B. boten der arbeitenden Bevölkerung Freizeitbeschäftigungen an, kümmerten sich um die kommunistische Erziehung und um die Verteilung der begehrten Mangelwaren, aber beschäftigten sich keinesfalls damit, wozu sie seinerzeit ins Leben gerufen wurden – mit dem Schutz der Interessen der Arbeiter. Als eine Massenorganisation mit dem Ziel, die Verteidigungsbereitschaft der Sowjetunion zu stärken, wurde 1951 ДОСААФ, die Freiwillige Gesellschaft zur Unterstützung der Armee, der Luftstreitkräfte und der Flotte gegründet. Obwohl die Mitgliedschaft formal freiwillig war, wurde sie je nach Lehranstalt bzw. Arbeitsplatz als obligatorisch oder halbobligatorisch betrachtet.

ДОСААФ – SCHULE DER PATRIOTEN, SAGT DIE SCHRIFT AUF DER WAND. MIT DEN KURSANTEN DER FUNKSCHULE DOSAAF TALLINN SPRICHT OBERSTLEUTNANT DER RESERVE I. GRITSENKO. SEPTEMBER 1983.
(ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

LENIN NANNTE DIE GEWERKSCHAFTEN DIE SCHULE DES KOMMUNISMUS. BÜRO DES ZENTRALSOWJETS DER GEWERKSCHAFTEN. OKTOBER 1947. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

WO KANN DIE STIMME FÜR ODER GEGEN DEN BLOCK DER KOMMUNISTEN UND PARTEILOSEN ABGEGEBEN WERDEN?
(EIHR)

EINSCHRÄNKUNG DER BÜRGERGESELLSCHAFT

Die Bürgergesellschaft besteht aus freiwilligen Organisationen, Vereinen und Bewegungen, die auf Initiative der Bürger im Rahmen der geltenden Rechtsnormen gegründet wurden. In der Sowjetunion waren die Erscheinungen der Bürgergesellschaft eingeschränkt und befanden sich unter der strengen Kontrolle des Staates und der kommunistischen Partei. Nur Vereine mit sehr spezifischen Zwecken durften gegründet werden und tätig sein, aber auch diese durften nur von Mitgliedern der kommunistischen Partei geleitet werden. Z.B . wurde 1966 der Estnische Naturschutzverein gegründet, aber der Initiator Jaan Eilart begriff, dass er selbst als Parteiloser keinesfalls so eine Organisation leiten kann. Deshalb wurde Edgar Tõnurist zum Vorsitzenden ernannt – ein zur Nomenklatur gehörender Kommunist, der stellvertretende Vorsitzende des Ministersowjets der Estnischen Sowjetrepublik. 1967 wurde nach zehn Jahren Hindernissen seitens des Staates gestattet, den Jägerverein der Sowjetrepublik Estland zu gründen. Dies geschah jedoch unter der Leitung der Partei- und Staatsbehörden. Die Satzung des Vereins wurde nicht in den Jagdorganisationen besprochen. 1949–1957 waren in Estland freiwillige Feuerwehrvereine gegründet worden, aber auch diese arbeiteten unter der Leitung der Parteibehörden und Sowjets. Während der Abstinenzkampagne von M. Gorbatschow wurden in den Unternehmen z. B. zwangsweise Unterorganisationen der Abstinenzvereine gegründet. Die Eigeninitiative wurde also auf keiner Ebene gestattet, überall wurden in die Leitung der Organisationen Parteimitglieder und Staatsbeamte mit einbezogen.

NACH DER ANSICHT DER SOWJETMACHT MUSSTEN AUCH DIE JÄGER VON TREUEN PARTEIMITGLIEDERN GEFÜHRT WERDEN. AUF DEM FOTO IST DER LEITER DES TALLINNER KLUBS DES JÄGERVEREINS DER ESTNISCHEN SOWJETREPUBLIK, DER EHEMALIGE INNENMINISTER DER ESTNISCHEN SOWJETREPUBLIK M. KRASSMAN ZU SEHEN. 1970. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

DIE AGITATIONSGRUPPE DES FREIWILLIGEN FEUERWEHRVEREINS TALLINN BEIM AUFTRITT. JANUAR 1974. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)