Den Bürgern der UdSSR wurden in der Verfassung der Sowjetunion die Redefreiheit, die Pressefreiheit sowie die Versammlungs- und Kundgebungsfreiheit garantiert. Obwohl dieser Grundsatz laut verkündet wurde, war es den Bürgern nicht gestattet, andere politische Versammlungen oder Reden abzuhalten als solche, die im Rahmen der Tätigkeit der herrschenden kommunistischen Partei und deren Unterorganisationen stattfanden. Stattdessen waren Demonstrationen zum Lob der Partei und der Regierung am internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai und am Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 am 7. November Pflicht. Politische Kundgebungen und Mahnwachen sind in Estland bis heute eher schwach vertreten, weil sich die Pflichtbesuche der Kundgebungen weiterhin als langweilige und unangenehme Ereignisse im Gedächtnis des Volkes eingeprägt haben.
SOLDATEN DER TALLINNER GARNISON BEI DER MAIPARADE AM PLATZ DES SIEGES. 1. MAI 1955. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
OKTOBERPARADE. BANNER „ES LEBE DIE GROßE OKTOBERREVOLUTION!“ UND GELANGWEILTE GESICHTER. 1970ER JAHRE. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
DIE SCHÜLER DER VI B KLASSE DER MITTELSCHULE MÄRJAMAA BEI DER KARTOFFELERNTE IN DER SOVCHOSE MÄRJAMAA BEIM ARBEITSEINSATZ ZU EHREN DES VERFASSUNGSTAGES DER UDSSR UND DES 61. JAHRESTAGES DES KOMSOMOL IM SEPTEMBER 1979. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
Bei leichteren politischen Fehltritten waren befristete Auftritts- und Veröffentlichungsverbote üblich. Zudem fanden jährlich die „Tarifierungen“ der Musiker statt, indem diese vor der zuständigen Kommission Beispiele ihres Repertoires vortragen mussten, auf deren Grundlage beschlossen wurde, ob sie eine Auftrittgenehmigung erhalten oder nicht. Auf dem Weg der Tarifierung wurden durch die Behörden nicht genehme Artisten schon im Vorfeld ausgeschlossen.
FUßBALLMATSCH ZWISCHEN DEN TEAMS DES ESTNISCHEN FERNSEHENS UND DES ESTNISCHEN RADIOS, BAND PROPELLER, DÜNAMO-STADION IN KADRIORG. 1980. (ARCHIV DES ESTNISCHEN RUNDFUNKS)
POET A. MÜLLER. ES GIBT KEINE AUFTRITTSVERBOTE MEHR. IN DEN DEMOKRATISCHEN GESELLSCHAFTEN SIND DIESE SELTEN UND MÜSSEN SCHLÜSSIG BEGRÜNDET SEIN. MAI 2002. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
BAND PROPELLER: A. VARTS, P. MALKOV, P. VOLKONSKI, P. MÄÄRITS, P. KUULBERG, FUßBALLMATSCH ZWISCHEN DEN TEAMS DES ESTNISCHEN FERNSEHENS UND DES ESTNISCHEN RADIOS. 1995. (ARCHIV DES ESTNISCHEN RUNDFUNKS)
In der Sowjetzeit fiel in Verbindung mit Rockmusikern oft der Ausdruck „bekam Auftrittsverbot“. Z. B. wurden jegliche öffentlichen Auftritte von Peeter Volkonski mit einer Verordnung des Kulturministers der Estnischen Sowjetrepublik verboten. Nach einem Vorfall in Verbindung mit dem Konzert der Band Propeller nach einem Fußballmatsch 1980 durfte er nicht nur als Musiker, sondern auch als Schauspieler im Theater nicht mehr auftreten. Das Verbot dauerte fünf Jahre – bis 1985!
Der Schauspieler im Theater Vanemuine sowie der spätere bekannte Rockmusiker Aleksander Müller (1947–2013) trat 1976 auf dem Rockfestival in Viljandi auf. Ihm wurde untersagt, das Lied „Narkomaan“ mit dem Text von Jüri Üdi vorzutragen. Er tat es jedoch trotzdem unter großem Beifall. Natürlich folgte ein Auftrittsverbot für 1 Jahr.
Die Sowjetmacht verstaatlichte das Kircheneigentum und schränkte die Arbeit und die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Kirchengemeinden ein (Verbot der Pflege, Frauen- und Kinderarbeit; Versammlungen laut dem Reglement nur mit einer Genehmigung des Exekutivkomitees möglich; hohe, nach dem Rauminhalt berechnete Mieten für die Nutzung der Kirchen; ein sechsmal höherer Strompreis als üblich; verpflichtende Überweisungen von gesammeltem Spendengeld für Außerpropaganda der Sowjetunion via Friedensfond). Nach Stalins Tod, als viele aus Sibirien zurückkehrten und die Situation sich etwas lockerte, nahm die Zahl der geistlichen Amtshandlungen zu. Darauf folgte eine Kampagne gegen die Religion. Mit Staatsgeldern wurde eine massive Kampagne des kämpfenden Atheismus veranstaltet. Geistige Literatur durfte man nicht veröffentlichen. Gestattet war nur eine kleine Anzahl Kalender mit Kirchenfesten und Gesangshefte. Personen, die geistliche Literatur aus dem Ausland in die Sowjetunion mitbrachten, wurden als Schmuggler behandelt.
ANTRAG AN DEN BEVOLLMÄCHTIGTEN FÜR RELIGIONSANGELEGENHEITEN. JANUAR 1970. (ARCHIV DES KONSISTORIUMS DER EELK)
WEIHNACHTEN IN DER KARLSKIRCHE. DEZEMBER 1968. (ARCHIV DER KIRCHENGEMEINDE KARLSKIRCHE TALLINN DER EELK)
Obwohl die Kirche an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde, waren die Friedhofsfeiern und Weihnachtsgottesdienste gut besucht. Die Versöhnungs- und Weihnachtsbotschaft, die dort verkündet wurde, stellte ein Gegengewicht zur Propaganda dar, die man täglich im Radio hörte und in den Zeitungen las.
Mit den Kirchenbesuchen war jedoch ein gewisses Risiko verbunden. Schon durch eine anonyme Anzeige konnte ein unvorsichtiger Staatsbürger auf die schwarze Liste geraten, was bedeutete, dass seine Tätigkeiten genauer als bisher unter die Lupe genommen wurden. Wer in einer verantwortungsvolleren Funktion arbeitete, konnte daraufhin sogar seine Arbeit verlieren. Bei Schülern war die Lage noch ernster. Zu Weihnachten wurden die Kirchen von Lehrpersonen und fleißigen Komsomolmitgliedern geradezu belagert. Wurde ein Schüler beim Gottesdienstbesuch ertappt, konnte man diesen unter Umständen sogar von der Schule ausschließen.
Der Empfang westlicher Radiosender wurde häufig gestört. Eine Komponente des Kalten Krieges, der nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen herrschte, stellten Medienangriffe dar. Auf Propaganda wurde mit Gegenpropaganda geantwortet. Insbesondere empörten die Sowjetunion die feindlichen Radiosender Radio Free Europe, Voice of America und Radio Liberty. Damit diese nicht gehört werden konnten, wurden Störsender eingesetzt.
Ab den 1960er Jahren waren die finnischen Fernsehsender im Norden Estlands mit lokalen Fernsehern und Antennen empfangbar. Am 6. April 1982 verlangte das Politbüro des Zentralkomitees der KPE, dass „der Kampf gegen das bürgerliche Fernsehen“ zu den wichtigsten Aufgaben der Ideologiearbeiter aufsteigen sollte.
PROPAGANDAPLAKAT
(OKKUPATIONSMUSEUM TALLINN)
Gehirnwäsche bedeutete ein konsequentes und gewaltsames Aufzwingen der kommunistischen Ideologie und der sowjetischen Einstellungen, Überzeugungen und Standpunkte. Das Gefühls- und Willensleben der der Gehirnwäsche Unterzogenen sollte den Sowjetmenschen quasi zu einer neuen Menschengattung, nämlich zum Homo Sovieticus umwandeln, der keine nationalen und religiösen Ideale haben durfte. Anschuldigungen wegen Nationalismus oder Gläubigkeit konnten Repressionen nach sich ziehen. Gehirnwäsche wurde vom Kindergarten bis zur Universität eingesetzt. In den Kindergärten wurden in einfacheren Formen die sowjetischen Lebenseinstellungen propagiert, in den Universitäten gehörten die Geschichte der KPdSU, der dialektische und historische Materialismus, die sozialistische Politökonomie und der wissenschaftliche Kommunismus zu den Pflichtfächern.
VON KLEIN AUF WURDE DEN JUGENDLICHEN EINGEHÄMMERT, DASS DIE KPDSU DEN VERSTAND, DIE EHRE UND DAS GEWISSEN UNSERER ZEIT VERKÖRPERE. PIONIERGRUß FÜR DIE XXVI. KONFERENZ DER ÖRTLICHEN ORGANISATION DER KPE DER STADT TARTU. 17. DEZEMBER 1983. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
OKTOBERKINDER UND JUNGPIONIERE WURDEN VORBEREITET, DEM KOMSOMOL, DER JUGENDORGANISATION DER KPDSU, BEIZUTRETEN. AUF DEM FOTO WERDEN DIE TEILNEHMER DER XXIII. KONFERENZ DER ÖRTLICHEN KOMSOMOLORGANISATION VOM RAJON PAIDE VON OKTOBERKINDERN UND JUNGPIONIEREN BEGRÜßT. DEZEMBER 1986. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
PARADE DER JUNGPIONIERE ANLÄSSLICH DES 63. JAHRESTAGES DER PIONIERORGANISATION. MAI 1985. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
NACH DER BÜCHERVERNICHTUNG. LOSUNGEN MIT LESEEMPFEHLUNGEN PROPAGIEREN SELBSTVERSTÄNDLICH DIE SOWJETLITERATUR. BESUCHER IN DER BÜCHEREI DER ORTSCHAFT ÕISU IM RAJON VILJANDI. DEZEMBER 1951. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)
„DAS SOWJETISCHE BUCH IST EINE REICHHALTIGE WISSENSQUELLE“. DER BIBLIOTHEKAR DES DORFSOWJETS TUDU, A. PIKKA, SPRICHT MIT DEN LESEAKTIVISTEN. JANUAR 1951. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)