Militarisierung

Militarisierung

SOWJETARMEE IN ESTLAND

Darüber hinaus, dass Auslandsreisen sehr schwierig zu bewerkstelligen waren, war ein freies Bewegen auch binnenstaatlich eingeschränkt. Auf dem Territorium Estlands befanden sich an 800 Punkten insgesamt 1565 geschlossene Militärobjekte, darunter ganze Städte wie Paldiski und Sillamäe. Diese beanspruchten insgesamt 87.147 ha: fast 2 % der Gesamtfläche Estlands. Ebenfalls existierten gesperrte Grenzzonen – die Inseln, die gesamte Nordküste und der Großteil der Westküste. Zum Betreten dieser Gebiete mussten anderswo in Estland ansässige Personen eine Genehmigung beantragen. Aufs Meer hinausfahren durfte selbst die Küstenbevölkerung nicht. Ausländern war untersagt, in Tartu zu übernachten, weil sich dort ein Bomberstützpunkt befand.

NUTZUNGSBEDINGUNGEN DER GRENZZONENGENEHMIGUNG FÜR DIE REISE NACH HIIUMAA. VORDRUCK VON 1969, GENEHMIGUNG AUSGESTELLT 1981 (SAMMLUNG DES MILITÄRMUSEUMS HIIUMAA)

ZUM BETRETEN DER GRENZZONE MUSSTE MAN EINE GRENZZONENGENEHMIGUNG VON DER MILIZBEHÖRDE DES INNENMINISTERIUMS DER SOWJETREPUBLIK ESTLAND VORWEISEN. DIE GENEHMIGUNG WURDE GEWÖHNLICH FÜR 1 JAHR AUSGESTELLT. FÜR DIE EINWOHNER REICHTE DER ANMELDESTEMPEL IM PASS. (OKKUPATIONSMUSEUM TALLINN)

VERBOTENE GRENZZONE. 1959. AUTOR: L. ODRES. (HISTORISCHES MUSEUM)

VERPFLICHTENDE MILITÄRISCHE AUSBILDUNG

Für die Sowjetunion war die Militarisierung der ganzen Gesellschaft kennzeichnend. Schon in den frühen Jahren wurde angefangen, den zukünftigen Soldaten zum Militärdienst vorzubereiten. Vor dem Militärdienst stand die Ausbildung in den Jugendorganisationen und die Beschäftigung mit militärsportlichen Disziplinen über DOSAAF: Kurse für Fallschirmspringen, Schießstände, Tauchen, Orientierungsläufe, Fahrkurse für Pkw- und Panzerwagenführerschein, Funkausbildung usw.

In der Schule bekamen die Wehrpflichtigen weitreichende militärische Grundausbildung. Die Instruktoren waren dabei Offiziere der Reserve, der Unterricht erfolgte in russischer Sprache. In den Hochschulen gab es Lehrstühle für Militärunterricht, die die Offiziere der Reserve ausbildeten (die Studentinnen bekamen eine Medizinausbildung). Zuerst vier, später drei Jahre lang gab es wöchentlich einen Tag mit russischsprachigem Militärunterricht. Der Kurs endete mit einem zwei- bis dreimonatigen Militärlager. Die Hochschulabsolventen erhielten den Rang des Leutnants der Reserve.

Heute ist die Landesverteidigungslehre in den estnischen Schulen ein Wahlfach mit dem Zweck einer patriotischen Erziehung, Ehrerbietung dem eigenen Staat gegenüber und Wissen der Schüler über die Ziele der Landesverteidigung. Die Schüler erhalten nützliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie auch dann gebrauchen können, wenn sie sich nicht direkt an der Organisation der Landesverteidigung beteiligen.

SCHÜLER DER MITTELSCHULE PÕLTSAMAA IM MILITÄRUNTERRICHT. OKTOBER 1974. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

LEHRSTUHL FÜR MILITÄRUNTERRICHT DES POLYTECHNISCHEN INSTITUTS TALLINN. 1980ER JAHRE. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

KÖRPERLICHE ERTÜCHTIGUNG IM DIENST DES TOTALITÄREN STAATES

Die körperliche Ertüchtigung war ein untrennbarer Bestandteil der kommunistischen Erziehung mit dem Ziel, die Jugend zum sowjetischen Patriotismus zu erziehen und die Staatsbürger zur Landesverteidigung vorzubereiten. Je nach Altersgruppen waren Normen der körperlichen Fähigkeiten festgelegt, in Behörden und Unternehmen fanden verpflichtende Wettbewerbe zur Erfüllung der Normen sowie Lauf- und Langlaufveranstaltungen statt. Das allsowjetische Sportleistungsabzeichen „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Sowjetunion“ stellte ein Trainingsprogramm dar, das 1931 eingeführt und bis zum Zerfall der Sowjetunion verwendet wurde. Es ergänzte die allsowjetische Sportklassifizierung.

In den Hochschulen war die körperliche Ertüchtigung für die Studenten in den ersten vier Studienjahren Pflichtfach. Jede Hochschule hatte einen Lehrstuhl für die körperliche Ertüchtigung und den Sport.

MASSENTURNEN DER JUNGEN AN DER SOMMERSPARTAKIADE DER SCHULJUGEND 1951. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

SPARTAKIADE DER WEHRPFLICHTIGEN DER SOWJETREPUBLIK ESTLAND. TALLINN. OKTOBER 1987. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)

KÖRPERLICHE ERTÜCHTIGUNG WAR EIN UNTRENNBARER BESTANDTEIL DER KOMMUNISTISCHEN ERZIEHUNG. AUTOR: A.VIIDALEPP. 1953. (DIGITALARHIV DER ESTNISCHER NATIONALBIBLIOTHEK DIGAR)

WEHRPFLICHT

In der Sowjetunion galt die allgemeine Wehrpflicht, es gab keinen Wehrersatzdienst. Die Wehrdienstverweigerer (z.B. Mitglieder der Freigemeinden, denen ihre Religion das Waffentragen verbietet) wurden mit Gefängnis bestraft. Um dem Wehrdienst zu entkommen, wurden oft verschiedene psychische Störungen simuliert, die jedoch später bei einem erstrebten Studienantritt oder bei einer Führerscheinprüfung zu einem Hindernis werden konnten. Reservisten, die den Wehrdienst absolviert hatten, wurden bei den Reserveübungen als unbezahlte Arbeitskräfte und für sog. Zivilschutzzwecke eingesetzt. Z.B. 1986 wurden Reservisten nach Tschernobyl geschickt, um die Folgen der Nuklearkatastrophe zu ”liquidieren”.

Bis 1956 hatten die Esten die Möglichkeit, den Militärdienst in Estland zu absolvieren. Später, nach dem Auflösen der nationalen Einheiten, wurden die Wehrpflichtigen überallhin in der Sowjetunion entsandt, im Generalfall außerhalb der eigenen Sowjetrepublik, aber auch außerhalb der Sowjetunion, manchmal in die Konfliktgebiete (1956 Ungarn, 1968 Prag, 1980er Jahre Afghanistan). Die Befehls- und Kommunikationssprache der Sowjetarmee war Russisch, die viele Esten jedoch nicht beherrschten. Verbreitet war Dedowschtschina, das Schikanieren der jüngeren Soldaten durch die Älteren. Oft kam es zu Konflikten zwischen den Nationen.

DIE ARMEE GENOSS IN DER SOWJETUNION HOHE WERTSCHÄTZUNG. AUTOR: T. ARU, 1981. (DIGITALARHIV DER ESTNISCHER NATIONALBIBLIOTHEK DIGAR)

LEBENSGEFÄHRLICHE RESERVEÜBUNGEN

In der Liquidation der Folgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl waren auch zu „Reserveübungen“ einberufene estnische Wehrpflichtige beteiligt. Der Leiter des Stabs für die Liquidation der Nuklearkatastrophenschäden war der Leiter des Zivilschutzes der Estnischen Sowjetrepublik Vello Vare. Über die Strahlungsgefahr wurden die zwangsweise zur Liquidation geschickten Personen nicht vorher aufgeklärt.

BRIEF VON EINEM LIQUIDATOR IN TSCHERNOBYL: „DU HAST AM 7. MAI GEHEIRATET, ABER ICH WURDE AM GLEICHEN TAG FORTGESCHICKT. AM 10. MAI KAMEN WIR IN TSCHERNOBYL AN. EIN PAAR TAGE DAUERTE DAS EINRICHTEN, DANACH BEGANN DAS RACKERN. (WIR LEBTEN IN ZELTEN.) ZUERST WUSCHEN WIR HÄUSER 2 MONATE LANG. DANN 2 ½ MONATE, D.H. BIS ENDE AUGUST, TRÖDELTEN WIR NUR HERUM. DIE HATTEN FÜR UNS KEINE RICHTIGE ARBEIT, WIR WURDEN IN DÖRFER GESCHICKT, UM DIE ERDE IN DEN HÖFEN UMZUGRABEN. MANCHMAL MUSSTEN WIR AUCH DIE ERDOBERFLÄCHE ABTRAGEN UND FORTSCHAFFEN. DIE ARBEIT WAR EIGENTLICH NICHT SCHWER. FÜR DEN GANZEN TAG WURDEN 40 M² ZUGETEILT. DAS HATTEN WIR SCHNELL GESCHAFFT, DIE RESTLICHE ZEIT SCHLIEFEN WIR ODER SPIELTEN KARTEN. DIE DÖRFER, WO WIR ARBEITETEN, WAREN LEER. KEINE MENSCHENSEELE. WIR WAREN ABER AUCH IN EINIGEN DÖRFERN, WO SICH MENSCHEN AUFHIELTEN. ANFANG SEPTEMBER SCHICKTE MAN UNS NACH TSCHERNOBYL. JETZT MÜSSEN WIR WIEDER RACKERN. NORMEN GIBT ES KEINE, WIR MACHEN, SOVIEL WIR SCHAFFEN. UNSER HAUPTWERKZEUG IST DER SPATEN. DIE MASCHINEN STEHEN, WIR ARBEITEN MIT DEM SPATEN. ÜBER DIE STRAHLUNG SCHREIBE ICH DIR NICHT. SPÄTER ZU HAUSE DANN. DAS WAR ES KURZ. NACH HAUSE SOLLTE ICH ENDE OKTOBER DÜRFEN, DANN SIND 6 MONATE VOLL. NOCH EINEN MONAT HIER SCHWITZEN. WEIßT DU, ICH HABE DAS LEBEN HIER SO SATT. DICH WERDEN WIR IM NOVEMBER BESUCHEN. SCHREIBE MIR KEINE BRIEFE MEHR, DIE ABREISE IST NOCH UNGEKLÄRT“. 23. SEPTEMBER 1986. (PRIVATARCHIV)

ÜBERPRÜFUNG DER RADIOAKTIVITÄT DER HÄUSER NACH DER NUKLEARKATASTROPHE VON TSCHERNOBYL. JULI 1986. (ESTNISCHES NATIONALARCHIV)